Die Kapelle im einst “Terziere della Bicheria” genannten Viertel von Aosta liegt an der heutigen Via De Tillier. Im Mittelalter verlief hier eine wichtige Ader für den Verkehr und die Handelstätigkeiten der Stadt. In der “Bicheria” befand sich zumindest seit 1245 eine dem hl. Gratus geweihte Kirche, und zwar nimmt man an, dass sie zwischen den heutigen Straßen Via Croix de Ville und Via Lostan lag. Die Kapelle dagegen wurde höchstwahrscheinlich im 15. Jahrhundert unter der Schirmherrschaft des Kapitels der Kathedrale von Aosta errichtet. Eine bestimmte Zeit muss sie parallel zur alten und größeren Kirche San Grato exisitiert haben. Aber möglicherweise wurde das kleinere Gotteshaus erst dem heiligen Bischof von Aosta geweiht, als die Kirche völlig an Bedeutung verloren hatte. Im 18. Jahrhundert begann der Niedergang der Kapelle, die erst der Feuerwehr überlassen wurde und dann als Lagerstätte benutzt war. In dieser Zeit wurden das Fassadenfresko und der obere Teil des Portals im Zuge des Baus eines neuen Eingangs teilweise zerstört. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Kapelle als Schneiderei und Kleidergeschäft verwendet.

Die Fassade weist ein Votivfresko auf, das vom Bürger Malcastia im Jahr 1512 gestiftet wurde. Die Malerei im spätgotischen Stil zeigt die Madonna mit Kind zusammen mit den Heiligen Nikolaus, Katharina, Barbara und Margarita, zu denen später der hl. Gratus hinzugefügt wurde. Es handelt sich um eines der seltenen Zeugnisse der Malerei des frühen 16. Jahrhunderts im Aostatal. Der Innenraum weist einen rechteckigen Grundriss mit Kreuzgewölbe und Spitzbogen auf. Die Rippen sind bezeichnend für die spätgotische Architektur und führen vom Schlussstein weg entlang der vier Ecken und dann zum Boden. Die Apsiswand der Kapelle zeigt ein Fresko, das wahrscheinlich auf das letzte Viertel des 16. Jahrhunderts zurückgeht und erstmals bei einem Pastoralbesuch im Jahr 1624 erwähnt wurde. In der Mitte zeigt eine Trompe-l’œil-Malerei im klassizistischen Stil eine Pietà mit vielen Gestalten unter drei mächtigen Kreuzen. In einigen Vetrinen mit Regalen sind archäologische Funde ausgestellt, die während der Ausgrabungsarbeiten im Zuge der Restaurierung aufgetaucht sind.

Derzeit ist die Kapelle nicht geweiht und präsentiert unter dem Namen “Galleria San Grato” Arbeiten der Künstlervereinigung des Aostatals.